Mit meinem Abitur in der Tasche stand eines für mich sicher fest. Nächster Halt: Studium! Ich hatte großes Interesse an Psychologie, Soziologie und der Erwachsenenbildung also allgemein: den Sozialwissenschaften, doch hat mich bei der Recherche nach passenden Studiengängen immer wieder eines überrascht: da muss man ja überall Statistik machen?!? In den Wirtschaftswissenschaften war das ganz ähnlich, auch in vielen anderen Studiengängen. Wenn ich an die Uni will, muss ich da also irgendwie durch. Ich hatte Mathe Leistungskurs in der Oberstufe und somit ein paar Vorkenntnisse. Viele meiner Kommilitonen jedoch nicht, was zu regelrechter Panik vor der Klausur führte. Im Wintersemester 2009/2010 nahmen 18 meiner Kommilitonen und Ich an der Klausur „Methoden der empirischen Sozialforschung I“ teil, 103 verschoben ihre Prüfung ins nächste Semester, um mehr Zeit zum Lernen zu haben.Ein interessantes Phänomen, oder? Woher kommt diese Panik vor der empirischen Forschung und der Statistik? Ist das eine Sache der Persönlichkeit, der Vorkenntnisse oder der Einstellung? Und wie kann ein Student es schaffen, dennoch gute Noten zu schreiben? Mittlerweile bin ich Dozent und Doktorand in der empirischen Sozialforschung und beschäftige mich genau mit diesen Themen. Mein Ziel ist es, meinen Studenten die Angst vor der Statistik zu nehmen und ihnen aufzuzeigen, dass Statistik und die empirische Methode keine langweilige Disziplin sein muss, sondern dass gerade hier die echte, interessante Forschung geschieht!
Du willst Psychologie studieren. Oder Soziologie. Oder BWL. Da geht es doch um Menschen und nicht um Zahlen?! Du wolltest doch etwas über Menschen, ihr Verhalten oder unsere Gesellschaft lernen, nicht Mathe studieren, richtig? Natürlich ist es sehr viel schwieriger, sich mit einem Thema zu beschäftigen, das einen überhaupt nicht interessiert. Man möchte die Literatur eigentlich überhaupt nicht lesen, man will nicht lernen und in den Vorlesungen hört man nicht zu. Ein Grund für schlechte Noten in Statistik, den ich immer wieder erlebe, liegt genau hierin begründet: Natürlich lerne ich wesentlich ineffektiver für ein Thema und bin im Allgemeinen sehr unmotiviert, wenn das Thema nichts mit mir zu tun hat und ich mich dennoch damit beschäftigen MUSS.
Die Biologen können mit ihren Untersuchungseinheiten in ihren Labors experimentieren, ebenso die Chemiker. Die Ingenieure können Modelle an Computern erstellen und mit Simulationen verschiedene Tests durchführen. Die Physiker können coole Laserexperimente durchführen. Und die Sozial-, Human- und Wirtschaftswissenschaften? Wir können nicht einfach mal ein paar Babys im Labor heranziehen und mit ihnen experimentieren, um deren Sprachentwicklung zu erforschen, Menschen einem psychischen Schock aussetzen, um zu sehen, wie diese reagieren oder einen Staat ins Chaos stürzen, um die Reaktionen der Bildungselite relativ zum Bildungsdurchschnitt zu beobachten.
Sozial-, Human- und Wirtschaftswissenschaftler haben im Gegensatz zu den Natur- und Ingenieurswissenschaften einen ungleich schwierigeren Prozess des Erkenntnisgewinns, wir müssen uns komplexe, anspruchsvolle und kreative Möglichkeiten ausdenken, wie wir Theorien testen können. Und was haben alle diese Möglichkeiten gemein? Die empirische Methodik! Ich würde so weit gehen und sagen, dass die Sozial-, Human- und Wirtschaftswissenschaften ohne die Statistik überhaupt keinen wissenschaftlichen Anspruch hätten. Du denkst, dein Studium hat nichts mit Statistik zu tun? Dein Studium würde ohne Statistik nicht einmal existieren!
Woher kommt also diese Urangst vor der Statistik? In meinem eigenen Jahrgang war es damals ganz einfach so, dass viele der Kommilitonen aus höheren Semestern gerne Panik verbreitet haben und uns „Erstis“ regelmäßig mit Horrorgeschichten von Durchfallquoten über 90 % in Angst und Schrecken versetzt haben. Diese Geschichten bilden Erwartungen. Erwartung führt zu einer Einstellung dem Fach gegenüber, meistens einer negativen Einstellung. Diese wiederum führt zu weniger Motivation beim Lernen, was für schlechte Noten sorgt. So schließt sich der Kreis und im nächsten Semester kannst du dann die Horrorgeschichten an die nächste Generation weitergeben.
Aber halt, willst du hier wirklich mitspielen? Schau dir mal genau an, welche Art von Student und Mensch das ist, der diese Panikmache betreibt und überlege dir, ob du auch so die Art von Student und Mensch sein möchtest. Oder besser mal den Kreis durchbrechen und das Fach mit etwas Abstand und Objektivität betrachten? Könnte sich lohnen!
Mich hat nach einem Tutorium zu „Methoden der empirischen Sozialforschung II“ mal ein Student gefragt, ob es fürs Bestehen der Klausur reicht, wenn er die ganzen Maßzahlen ausrechnen, aber nicht interpretieren kann. Ich musste mir einen blöden Spruch darüber, dass wir hier Wissenschaftler und keine Taschenrechner ausbilden, wirklich stark verkneifen. Natürlich ist Statistik auch Mathe, natürlich heißt es zu irgendeinem Punkt auch mal Formeln lernen und per Hand Durchschnitt, Standardabweichung und Korrelation berechnen. Doch jetzt verrate ich dir ein Geheimnis: wenn du mir etwas Falsches vorrechnest, das Ergebnis aber richtig interpretierst, bekommst du trotzdem Punkte, und zwar nicht zu wenig. Weil wir später sowieso alles mit dem Computer berechnen und Interpretieren wichtiger ist als stumpfes Rechnen.
Ok, trotzdem haben wir alle zu irgendeinem Punkt im Studium die eine Klausur, in der wir rechnen müssen, also was bringt es, sich über den Sinn zu unterhalten? Und zugegeben, manche Formeln sind wirklich lächerlich groß und lang. Oder auch nicht kommt auf die Schreibweiße an! Denn eigentlich bauen alle Formeln aufeinander auf. Nehmen wir als Beispiel die Formel zum Berechnen von Pearsons r (DER Korrelationskoeffizient). Diese lautet ganz einfach Kovarianz geteilt durch Standardabweichung von X mal Standardabweichung von Y. Hieraus ergeben sich zwei Möglichkeiten, die Formel zur Berechnung von Pearsons r aufzuschreiben. Die erste Möglichkeit lautet, in den Zähler „Kovarianz“ und in den Nenner „Standardabweichung von X mal Standardabweichung von Y“ zu schreiben. Die Zweite Möglichkeit besteht darin, in den Zähler die gesamte FORMEL zur Berechnung der Kovarianz und in den Nenner dann noch die FORMEL zur Berechnung der Standardabweichung von X und Y zu schreiben. Erste Version ergibt eine süße kleine Formel, die man nach dem zweiten Mal lesen schon auswendig wiedergeben kann. Und die zweite Version ergibt eine Formel, bei der mir schon die Hand krampft, wenn ich sie nur abschreiben will.
In der Statistik ist es in der Regel der Fall, dass Formeln aufeinander aufbauen. Und leider ist es trotzdem häufig die Regel, dass in Lehrbüchern der Vollständigkeit wegen die kompliziertere Formel abgebildet ist. LASS DICH DAVON NICHT VERUNSICHERN! Bis es in der Klausur dazu kommt, dass du Pearsons r berechnen musst, hast du die Kovarianz und die beiden Standardabweichungen bereits berechnet, die komplizierte Formel muss dich also überhaupt nicht interessieren! Und das gleiche gilt für so gut wie jede andere Maßzahl.
Die Interpretation der Ergebnisse macht vielen Studenten Probleme, doch woran liegt das? Ein Punkt ist, dass niemand so wirklich klare Grenzwerte aussprechen will. Ab wann ist ein Zusammenhang zwischen zwei Variablen stark, ab wann schwach? Wann streut eine Variable wenig, wann viel? Wenn wir behaupten, dass Korrelationen erst ab r = 0,2 relevant werden, was ist dann mit einer Korrelation von r = 0,195? Der Grund, warum niemand gerne Grenzwerte definiert liegt daran, dass sich niemand bei der Interpretation einschränken möchte.
Und wenn es keine klar definierten Intervalle und Grenzwerte sind, dann mache ich mir das bei der Interpretation eben zunutze. Wenn es keine klar definierten Grenzen gibt, dann kannst du bei der Benennung auch nicht viel falsch machen, solange du nicht behauptest, dass 0,1 ein sehr starker Zusammenhang ist! Mach es dir einfach zum Vorteil, dass es keine klaren Grenzwerte gibt und verwende Worte wie „Schwach“, „Schwach bis Mittelstark“, „Mittelstark“, „Mittelstark bis Stark“, „Stark“, „Stark bis sehr Stark“ oder „Sehr Stark“ bei der Beschreibung der Zusammenhänge! Vergesse außerdem nicht, die Richtung der Beziehung anzugeben. 0,35 ist ein schwach bis mittelstarker, positiver Zusammenhang. -0,68 ein starker, negativer Zusammenhang.
Statistik und die empirische Forschung sind keine trockenen Disziplinen, sondern Grundlage des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns. Es gibt wenig andere Lehrveranstaltungen die ein ähnlich hohes Potential haben, ihre Inhalte praxisnah und mit vielen konkreten Beispielen zu vermitteln. Sicherlich ist das Ausrechnen der Maßzahlen per Hand nicht die coolste Übung, hilft jedoch dabei, die einzelnen Maßzahlen und ihre Besonderheiten wirklich zu verstehen. Und nicht zuletzt ist es vor allem die Interpretation der Ergebnisse und nicht das Ausrechnen selbst, welches in der Regel im Fokus der Prüfungsleistungen steht.
Die Angst vor der Statistik an sich ist für mich weniger rational Begründet, als vielmehr von Generationen von Studenten mündlich weitergegeben und dadurch, ähnlich wie bei der stillen Post, verzerrt gewachsen und überzogen. Wer die empirische Methode begreift als Grundlage des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns, der wird auch die Motivation finden, sich mit ihr zu beschäftigen und schließlich gute Noten schreiben. Davon bin ich überzeugt.
Gruß – Christoph
Tim
vielen Dank für diesen Artikel - gefällt mir wirklich sehr gut! :-)
In meinem Studium hatte ich anfangs auch ein bisschen Bammel vor Statistik und fand den ganzen Stoff furchtbar abstrakt und unsexy. Nachdem der erste Grundlagenschock aber überstanden war und die Fallbeispiele kamen, füllte sich das Ganze mit Leben und ich hatte nicht mehr nur irgendwelche Standardabweichungen und Dichtefunktionen vor Augen, sondern Geschichten. Geschichten, die ich mit obejektiven Methoden verstehen, interpretieren und verbessern konnte. Un dann gings eigentlich.
Ich bekomme von vielen meiner Studentinnen und Studenten mit, wie furchtbar Statistik sei und dass man dieses Fach halt nicht könne... Quatsch! Jeder kann das und so schwierig ist das gar nicht. Man darf sich der Tehmatik nur nicht zu formal nähern. Aber das hängt auch immer vom Dozenten ab...
Ergänzend zu deinem Artikel kann ich dazu das Buch "Statistik von Kopf bis Fuß" von Dawn Griffiths empfehlen. Hat mir gut geholfen.
Schöne Grüße
Tim
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